Gesund & Satt

Es hat viele Namen, doch alle Eltern wissen auf Anhieb, was gemeint ist: Das Kind kann oder darf nicht etwas ganz genau so tun, wie es exakt seinen Vorstellungen entspricht. Es kommt zu einer Frustration, die im Kind große Spannungszustände verursacht. Die sogenannte emotionale Regulation gelingt nicht, das Kind schreit, weint, tobt, wirft sich auf den Boden, schlägt um sich, verliert sogar temporär den Kontakt zur Umgebung. Das dauert in der Regel zwischen 30 Sekunden und 5 Minuten. 

Irgendwann ist die Frustration nicht mehr da und das Kind spielt weiter als wäre nichts passiert. Doch warum ist das so? Und warum gehört eine von den Eltern oft als “sooo furchtbar“ empfundene Phase zur gesunden Entwicklung des Kindes?

Psychologin Nilgül Sahinli Mayregg arbeitet in ihrer Praxis mit Eltern und Kindern und hat hierzu einige Antworten:

 

Das erste Lebensjahr

In seinem ersten Lebensjahr erlebt ein Neugeborenes ganz schön viel: Es ist alles neu (Gesichter, Nahrungsaufnahme, Verdauung, Berührungen, ja sogar die Luft), das alles kannte es ja gar nicht im Bauch, es lernt seine ganze Umgebung, seinen eigenen Körper und vor allem seine wichtigsten Bezugspersonen kennen. Es lernt Kopf halten, sitzen, stehen, schreien, Blickkontakt halten, zeigen, kommunizieren, trinken, essen, kuscheln – die Liste ist unendlich. Dabei lernt es zwei große Emotionen, die fast immer dazu gehören: Freude oder Wut. Beides teilt das Neugeborene mit seinen Bezugspersonen – in der Regel mit seinen Eltern und erlebt diese Emotionen mit ihnen gemeinsam.  Vor allem, wenn es mit seiner Wut nicht fertig wird, braucht es die Unterstützung der Eltern: Es will getragen werden, kuscheln, sucht Nähe und Körperkontakt, beruhigt sich mit Hilfe der Eltern. Es kann seine Emotionen noch nicht selbst regulieren und ist auf die sogenannte dyadische Koregulation angewiesen.   

Das zweite Lebensjahr

Im zweiten Lebensjahr passieren auch wieder spannende Sachen: Dank seiner kognitiven Reifung kann das Kleinkind nun seine Umgebung immer differenzierter wahrnehmen, es lernt sich von anderen zu unterscheiden. Mit den Anfängen der sogenannten Ich-Entwicklung entdeckt es seinen eigenen Willen und seine eigenen Wünsche. Es findet heraus, dass es NICHT eine Einheit mit seiner Mutter ist, sondern ein unabhängiges Individuum – eine schöne, aber zugleich beängstigende Entdeckung! Das sogenannte Paradoxon der Entwicklung verursacht nun, dass einerseits Gefühle der Verbundenheit gebraucht werden, doch andererseits auch ein großer Wunsch nach Autonomie und Abgrenzung besteht. Dazu kommen neue Gefühle wie Scham und Stolz, die das Kind auch erst mal kennenlernen und den Umgang damit erwerben muss.

Die Überforderung und die noch nicht gelingende Selbstregulation verursachen dann das sogenannte entwicklungsangemessene Trotzen. Hier ein paar Statistiken, die in meiner Praxis die Eltern immer wieder beruhigen: 

  • 80% der 17 Monate alten Kinder haben Trotzanfälle, den Häufigkeitsgipfel erreichen die Anfälle mit 2 Jahren und gehen dann bis zum Alter von 5 Jahren wieder zurück. Die Anfänge finden sich meistens zwischen 15 und 19 Monaten, aber bei manchen Kindern auch schon um den ersten Geburtstag herum.
  • Körperliche und verbale Aggressionen gehören dazu: 70% der Kinder, die zwischen 12 und 17 Monate alt sind, nehmen einem anderen Kind das Spielzeug weg, 46% schubsen, stoßen, ca. 25% beißen, kratzen, treten und schlagen.  

Ja, das alles hört sich gut und stimmig an, doch diese Informationen helfen nicht, wenn das Kind im Supermarkt sich auf den Boden geworfen hat und die alte Dame in der Schlange es mit Schokolade trösten möchte. Was hilft denn den Eltern, solche Situationen gut zu überstehen?

Erstens muss man sich immer wieder daran erinnern, dass das eine vorübergehende Zeit ist. Mit zunehmendem Spracherwerb lernt das Kind, sich besser auszudrücken und kann andere Strategien entwickeln, um mit den heftigen Emotionen fertig zu werden. Die Eigenschaften der Eltern, die diese Phase gut überstehen, sind Geduld und Gelassenheit und sie können mit viel Geschicklichkeit und Fantasie das Kind ablenken sowie in meisten Situationen vorausschauend handeln.

Keine Absicht

Eltern sollen verstehen, dass hinter dem Trotzanfall keine Absicht steckt, sondern dass das Kind so handelt, weil es ihm noch an Geduld und Ausdauer fehlt. Es ist keine inhaltliche Auseinandersetzung, der die Eltern sprachlich begegnen sollten. Eltern, die es schaffen, ruhig zu bleiben, können dem Kind Auswege aus der Situation zeigen und so zur Entwicklung seiner Bewältigungsstrategien beitragen. Hier noch ein paar praktische Tipps, wie du als Mama oder Papa das Gleichgewicht zwischen Verbundenheit und Autonomie halten kannst: 

  • Emotionen des Kindes spiegeln und in Wörter erfassen: Ich verstehe, dass Du wütend bist! Das macht dich traurig, nicht wahr? 
  • Zu verbale Erklärungen während des Trotzanfalls vermeiden, keine sprachliche Auseinandersetzung starten
  • Die autoaggressiven Handlungen, solange sich das Kind nicht in ernsthafte Gefahr bringt, was meistens der Fall ist, ignorieren
  • Bei aggressiven Handlungen sofort und konsequent reagieren: Nein, Lukas, ich will nicht, dass Du mich schlägst. Das tut weh!
  • Mit dem Kind auf der gleichen Augenhöhe sprechen
  • Immer fragen, welches positive Verhalten in dem Moment gestärkt werden kann: Du warst trotz deiner großen Wut ganz lieb zu Deiner Schwester. 
  • Ablenken mit Geschicklichkeit und Fantasie, wenn sich das Kind halbwegs beruhigt hat: Schau, diese Träne hat eine Spur wie eine Schnecke hinterlassen.  
  • Bei Eskalation: Wenn du das Gefühl hast, dass du deine eigene Wut nicht mehr kontrollieren kannst, sofort die Situation verlassen, durchatmen, paar Minuten später probieren, wieder Kontakt mit dem Kind aufzunehmen.  


Die meisten Eltern überstehen diese Phase mit ihren eigenen intuitiven elterlichen Kompetenzen und einer konsistenten und konsequenten Haltung. Ausnahmen bestehen, wenn Eltern in ihrer Intuition durch ihre eigenen negativen Erfahrungen eingeschränkt sind oder durch frühere Traumata mit ihren eigenen Emotionen so beschäftigt sind, dass sie das Kind gar nicht wahrnehmen können. Dann hilft es auf jeden Fall, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen.

 

Über Nilgül Sahinli Mayregg

Nilgül Sahinli Mayregg ist Klinische und Gesundheitspsychologin, Notfallpsychologin, zertifizierte SFP-Trainerin, SAFE-Mentorin und HypnoBirthing-Kursleiterin.  
Geboren 1983 in Istanbul besuchte sie das österreichische Gymnasium St. Georg’s Kolleg und verlegte 2002 ihren Lebensschwerpunkt nach Wien. Sie arbeitet in einer freien Praxis mit schwangeren Frauen, frischen Müttern und Familien mit Kleinkindern und unterstützt diese bei allen möglichen Fragen rund um die Themen in früher Kindheit. Außerdem arbeitet sie mit Kindern und Jugendlichen bei Fragen zu Schul- und Leistungsfähigkeit, Berufsauswahl, Konzentrationsproblemen, emotionalen Auffälligkeiten u.ä. Weitere Informationen findest du auf ihrer Homepage www.ailem.at
 

Literaturhinweise:

Cierpka, M. (Hrsg.), (2015). Regulationsstörungen. Springer Verlag.

Cierpka, M. (Hrsg.), (2014). Frühe Kindheit. Springer Verlag.

Brisch, K.H. (2014). Säuglings- und Kleinkindalter. Fachbuch Klett-Cotta

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