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Warum Kinder lügen – und wie wir sinnvoll darauf reagieren können
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Ehrlichkeit ist in vielen Familien ein hoher Wert. Wenn Kinder lügen, fühlt sich das oft an wie ein schlimmer Vertrauensbruch. Doch gerade in solchen Momenten ist es wichtig, nicht vorschnell zu reagieren. Wie in so vielen Situationen lohnt es sich, einen Schritt zurückzutreten, durchzuatmen – und hinzuschauen.
Lügen ist nicht gleich Lügen
Gerade bei jüngeren Kindern ist es meistens keine bewusste Lüge, wenn sie die Realität ausschmücken oder übertreiben:
„Der Baum war HUNDERT Meter hoch!“
„Ich war die GANZE Nacht wach!“
„Ich kann FÜNF Kugeln Eis essen!“
Hier geht es nicht um den Wahrheitsgehalt einer Aussage, sondern um einen bestimmten Superlativ, den das Kind ausdrücken möchte.
Solche Aussagen zu korrigieren („Naja, so hoch war der Baum aber nicht...“) ist beschämend und schwächt die Verbindung zum Kind.
Bewusste Lügen haben Gründe
Wenn Kinder gezielt die Unwahrheit sagen – z. B. „Ich hab die Schokolade nicht gegessen“ oder „Ich hab schon Zähne geputzt“ – obwohl das Gegenteil für die Eltern offensichtlich ist, steckt immer eine bestimmte Absicht dahinter:
- Konsequenzen vermeiden
- Verbindung suchen
- Sich oder andere schützen
Diese Absicht kann auch gut gemeint sein, zum Beispiel wenn Kinder spüren, dass die Eltern enttäuscht wären – und sie sie davor bewahren möchten.
Das heißt aber noch nicht zwangsläufig, dass dem Kind diese Intention bewusst ist und sie auch erklären kann. Für uns Eltern ist es aber wichtig zu wissen, dass die Lüge kein Anzeichen für moralischen Verfall ist, sondern eine Strategie, um ein bestimmtes Bedürfnis zu erfüllen.
Lügen ist ein Zeichen von Reife
Bewusst zu lügen ist auch eine kognitive Leistung.
Ein Kind muss dafür verstehen, dass ein anderer Mensch möglicherweise eine völlig andere Perspektive hat – und dass man diese mit dem, was man sagt, direkt beeinflussen kann.
Diese Fähigkeit entwickelt sich etwa ab dem 4. bis 5. Lebensjahr und ist ein Meilenstein in der Entwicklung von sozialer Intelligenz.
Lügen zeigt also auch: Mein Kind versetzt sich in andere hinein und beginnt, komplexe soziale Zusammenhänge zu durchdringen. Dabei beobachtet es auch moralische Widersprüche im Alltag:
Mama sagt „Schmeckt lecker“, und erwähnt am Heimweg, dass ihr das Essen bei der Oma gar nicht geschmeckt hat.
Papa sagt „Wir sagen immer die Wahrheit“, sagt im Kindergarten aber, dass der Bus Verspätung hatte, obwohl sie einfach zu spät weggegangen sind.
Kinder beobachten Erwachsene bei Notlügen – und experimentieren auch selbst mit der Wahrheit.
Strafen fördern Lügen – nicht Ehrlichkeit
Je mehr Kinder für Fehler beschämt oder bestraft werden, desto eher entwickeln sie Lügen als Strategie. Und je öfter sie das tun, desto besser werden sie darin.
Lügen wird dann zur Überlebensstrategie in einem Klima von Angst und ist keine bewusste Entscheidung gegen die elterlichen Werte. Langfristig leidet darunter nicht nur die Kommunikation, sondern auch die Beziehungsqualität zwischen Eltern und Kind.
Was tun, wenn mein Kind lügt?
Die wichtigste Grundlage für Ehrlichkeit ist: Sicherheit. Ein Kind braucht das Gefühl, dass es nicht beschämt oder bestraft wird, wenn es die Wahrheit sagt.
„Mama, ich hab dein Tablet fallen lassen.“
„Papa, ich hab deine Schokolade gegessen.“
So schwer es vielleicht fällt – solche Geständnisse sind Vertrauensgeschenke.
Ein „Danke, dass du mir das sagst“ kann hier mehr bewirken als jede Belehrung.
Gerade wenn das in der Vergangenheit in der Familie nicht so gelebt wurde, kann es ein langer und steiniger Weg sein, bis das Vertrauen wieder aufgebaut ist.
Lügen ist kein Versagen
Weder beim Kind noch bei den Eltern. Lügen ist eine Einladung zum Hinschauen:
- Was könnte die Absicht hinter der Lüge sein?
- Wie kann ich für ausreichend Sicherheit sorgen, damit mein Kind keine Angst hat, die Wahrheit zu sagen?
- Wie lebe ich selbst Ehrlichkeit vor?
Ehrlichkeit entsteht nicht durch Kontrolle, sondern durch Beziehung. Sie kann nicht erzwungen werden – aber sie kann kultiviert werden. Im Alltag. Im Miteinander. Und in der Art, wie wir mit Fehlern umgehen.
Über die Autorin
Die Autorin Elisabeth Witzani ist Elternberaterin (in Ausbildung unter Supervision), schreibt einen regelmäßigen Newsletter und hostet ein 6-wöchiges Programm für Eltern, die gemeinsam mit ihrem Kind wachsen möchten. Mehr über ihre Arbeit, Termine und Fachwissen rund um starke Eltern-Kind-Beziehungen auf www.elisabethwitzani.at